Latin war gestern: Probe am 9. April 2009

Die Overdubs für unsere CD-Aufnahme sind seit letztem Samstag im Kasten, und jetzt liegen die Geschicke des neuen Albums in den Händen von Jakob H. und Thomas S., die das Ganze abmischen. Wieviele Monate intensiven Latin-Studiums liegen nun hinter uns? Wer vermag sie zu zählen? Es war eine lange Zeit.

Wenn eine Gruppe eine anstrengendes Projekt beendet hat, ist es die Aufgabe einer jeden Führungspersönlichkeit, neue Wege aufzuzeigen. Sonst drohen die Projektteilnehmer in ein schwarzes Loch zu fallen. Und wie kann man seine Mitarbeiter am besten von trübsinniger Grübelei abhalten? Unser CMO Thomas S. weiß, wie es geht: Man gibt ihnen eine anspruchsvolle Aufgabe. Dabei versteht es sich aber von selbst, dass man erst einmal nicht direkt mit dem Mitarbeitern interagiert, sondern die operative Umsetzung in die Hände eines bewährten Assistenten legt.

Deswegen erreichte mich heute Mittag folgende E-Mail von unserem CMO, vermutlich mit einer Hand auf dem Blackberry getippt, während die andere Hand 325 PS durch die Mannheimer Downtown steuerte.

Von: Thomas S.
An: Hendrik A.
Gesendet: Mi 08.04.2009 12:13
Betreff: prg heute abend

schickst du das bitte rum damit die noten da
sind für heute Abend

cruisin for

miss fine
critic's choice
sussudio/pick up the pieces

danke thomas

Freunde und Kenner der SAP BIG BAND erkennen natürlich, dass sich hier nicht um moderne Lyrik handelt ("Cruisin for Miss Fine"), sondern um eine Liste von Stücken, hinter der sich gleich zwei anspruchsvolle Aufgaben verbergen: Zunächst einmal galt es, nach vielen Monaten Swing- und Blues-Entzug, den Schalter im Kopf wieder umzulegen, Mambo, Samba und wie sie alle heißen zu vergessen, bei Miss Fine cool zu swingen und bei Pick Up the Pieces so richtig funky zu spielen. Und zweitens waren die Musikerinnen und Musiker mit der Aufgabe konfrontiert, die Noten für diese Stücke zu finden.

In der Band kommen unterschiedliche Noten-Ablagesysteme zum Einsatz (numerisch, alphabetisch, in Einzelfällen vielleicht auch alphanumerisch), aber das vorherrschende System ist doch das gute alte Go-to-the-Bottom. Bei diesem System werden die Notenblätter eines Stückes, das man gerade gespielt hat, einfach oben auf den Stapel in einer Art Loseblattsammlung gelegt. Wenn das nächste Stück beendet ist, werden die Notenblätter in derselben Weise abgelegt -- einfach obendrauf. Auf diese Weise sinkt ein Stück, das länger nicht gespielt wird, langsam auf den Boden des Stapels und kann dort jederzeit abgeholt werden. Dieses System hat einen großen Vorteil: Die Musikerinnen und Musikern werden in die Lage versetzt, den Notenständer nach Beendigung eines Stückes extrem schnell leerzuräumen. Die gewonnene Zeit kann dann auch gleich eingesetzt werden, um Noten zu finden, die sich gerade in einer undefinierten Position zwischen Top und Bottom befinden. Allerdings kann Go-to-the-Bottom nur dann erfolgreich eingesetzt werden, wenn es genau einen Stapel gibt. Die zitierte Nachricht von Thomas spielt auf die Tatsache an, dass in Einzelfällen zwei Stapel existieren: Der Ich-glaube-das-sind-die Stücke-die-wir-gerade-spielen-Stapel befindet sich in der Notentasche, und der Das-Zeug-schleppe-ich-lieber-mal-nicht-mit-Stapel liegt zu Hause in der Garage auf den Winterreifen.

Da die meisten Bandmitglieder SAP-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sind, können sie sich auf Grund der Nähe zum Proberaum (das Foyer von Gebäude 5 in Walldorf) jeden Mittwoch bis kurz vor 19.00 Uhr ihrer persönlichen Wertschöpfungskette widmen, bevor sie dann zu spät zur Probe kommen. In diesem Konzept ist ein Schlenker über die heimische Garage natürlich nicht vorgesehen, und so durfte man gespannt sein, zu welchem Erfolg die Last-Minute-Info bezüglich der heute zu probenden Stücke führen würde.

Um es kurz zu machen: Ich ging noch etwas früher als sonst zur Probe, um nicht nur meine übliche Vorbereitung durchzuführen (Kantine aufschließen, damit die Herren und Damen Saxophone sich Stühle holen können; den Geschirrwagen im Foyer wegräumen; die Videoleinwand ausschalten), sondern auch, um die Stücke auf der Liste aus dem Notenschrank im Keller zu holen. Schließlich sind bald wieder Präsidentschaftswahlen in der Band, für die es Punkte zu sammeln gilt. Ebenfalls sehr pünktlich vor Ort war unser CMO, der in seiner Weisheit schon wieder neue Pläne geschmiedet und teilweise ganz andere Stücke im Kopf hatte, die wir dann zusammen aus dem Keller holten. Ich denke, damit ist der Wahlkampf für dieses Jahr eröffnet, Ralfi-Baby. Mit dem erfolgreichen CD-Aufnahme-Wochenende im Rücken habe ich natürlich einen mächtigen Vorsprung. Allerdings weiß ich gar nicht, ob ich noch einen Gegner habe. Normalerweise setzen Präsidenten in ihrer letzten Amtszeit ja noch einmal entscheidende Aktzente, um in die Geschichtsbücher aufgenommen zu werden. Darauf warten wir noch. Ich kann mir das eigentlich nur so erklären, dass mein ewiger Kontrahent Ralf H. im Verborgenen eine ganz große Nummer vorbereitet, um mich später mit einem Schlag wegzufegen. Auffällig ist auch, dass die Zahl seiner E-Mails stark abgenommen hat. Früher kamen an einem normalen Tag zwischen Mitternacht und 1.30 Uhr im Schnitt 12,5 E-Mails von Ralf. Davon ist nichts mehr zu sehen. Und da fragt man sich schon: Wenn er uns nicht mailt, wem mailt er dann? Ich glaube, er wird uns noch alle überraschen.

Kommen wir zur ersten Frage zurück: Wie kam die Band nach Monaten voller südamerikanischer Rhythmen mit einem ganz anderen Repertoire zurecht? Den Anfag machte Cruisin' for a Bluesin'. Im ersten Durchgang hatte Konsul Toni D. ein sehr gutes Solo gespielt, und für den zweiten Durchgang hatte ich mich für ein Trompetensolo gemeldet. Da weit und breit keine Vorzeichen zu sehen waren, ging ich von einem C-Blues aus und dachte angestrengt nach, welche Töne dazu passen würden. Mir war aber nicht mehr klar, wie das genau mit der verminderten Fünf und der Sieben und überhaupt war, so dass ich mich nicht sicher fühlte. Wenige Sekunden vor dem Solo hörte ich dann von Toni, dass es sich um einen F-Blues handelte. Da blieb natürlich keine Zeit mehr, die passenden Noten zu ermitteln, so dass ich einfach nach Gehör spielte, was aber überraschenderweise zumindest nicht völlig daneben ging. Nach den Overdubs für die CD, bei denen ich nach etwa 38 Takes ein paar halbwegs brauchbare Fragmente abgeliefert hatte, war das eine wohltuende Erfahrung. Übrigens hatte ich bei dem zusätzlichen Overdub-Termin am vergangenen Sonntag eine weitere Chance, mein Solo bei El Centro einzuspielen, und Thomas kommentierte meine Leistung heute Abend treffend: "Es war die gleiche Grütze, aber mit besserem Ansatz." Na also! Ich denke, dass ich auf einem guten Weg bin.

Thomas schaffte es heute Abend schon beim ersten Stück (Cruisin'), zahlreiche Musikerinnen und Musiker zum Solospiel zu animieren, und man muss sagen, dass alle ihre Sache gut gemacht haben, und Thomas muss man zu diesem Schachzug gratulieren. Es war genau die richtige Maßnahme nach all der Konzentration und Exaktheit einer CD-Aufnahme. Besonders hervorzuheben ist Harald S., der für mein Gefühl mit seinen Soli dem Charakter der Stücke in besonderer Weise gerecht wurde (zum Beispiel bei Pick Up the Pieces oder Street Life).

Pick Up the Pieces war auch insofern interessant, als Martin W. (trb) eine philosopische Diskussion vom Zaun brach: Ein bestimmter Abschnitt im Notenbild war sowohl mit Wiederholungszeichen markiert als auch mit "Repeat 3 X's" überschrieben. Mögliche Auslegungen:
  • Mathematisch: (1 Abschnitt + 1 Wiederholung) * 3 = 6 Durchgänge
  • Pragmatisch: "Der Abschnitt wird eben nicht zwei-, sondern drei Mal wiederholt."
Als wir uns endlich auf die pragmatische Interpretation geeinigt hatten und weiterspielen wollten, kehrte Jürgen H. kurzerhand zur Ausgangsfrage zurück, und erkundigte sich, wie oft der Abschnitt denn wohl zu spielen sein. Entsprechende Kritik ("das haben wir doch gerade lang und breit besprochen!") ließ er routiniert an sich abprallen: "Ich kann es mir erlauben, ich habe es ja richtig gespielt." Jawoll! Das beweist Klasse. Wächst hier der nächste Präsident der Band heran? Ich würde mich nicht wundern.

Eine meiner Lieblingsnummern, Hay Burner, konnte leider nicht gespielt werden, weil die Noten bei zu vielen Probenteilnehmern auf dem Winterreifenstapel lagen. Ich war deswegen sehr traurig, aber das interessiert ja sowieso niemanden.

Sehr schön war Miss Fine -- ich träume ja seit Jahren davon, einmal das Trompetensolo spielen zu dürfen (zumindest in der Probe), doch Toni stand wie ein Fels in der Brandung, und das zurecht: So wie er werde ich es nie spielen können. Eine wirklich fantastische Leistung lieferte aber Jens W. (git) bei diesem Stück ab: Gegen Ende haben die Trompeten ausgiebige Shakes zu spielen, die gute Trompeter mit Zunge und Lippen ausführen, während Verlierer wie ich einfach die ganze Trompete so schütteln, dass der Ton in Schwingung gerät, aber die Schneidezähne keinen Schaden davontragen. Und was machte Jens? Er spielte die Shakes auf der Gitarre mit. Dabei kamen aber nicht Zunge und Lippen zum Einsatz, sondern eine mandolinenartigen Technik, die in der europäischen Jazz-Szene sicher noch von sich reden machen wird.

Nach der Probe begann die übliche Diskussion, in welcher Lokation die Nachbesprechung durchzuführen sei. Edda S. regte an, etwas Neues auszuprobieren, und schlug den "Italiener unten in der Astoria-Halle" vor. Der Vorschlag wurde angenommen, und mit Hilfe einer etwas diffusen Wegbeschreibung landeten wir zwar alle auf demselben Parkplatz, aber nicht im selben Lokal. Eine Splittergruppe, bestehend aus Ralf H., Anja R. und mir wäre fast in einem Lokal namens "Thessaloniki" gelandet, wobei Thessaloniki ja streng genommen nicht in Italien liegt. Ein kurzer Anruf bei unserem CMO führte uns dann auf den rechten Weg, und es stellte sich heraus, dass Eddas "neuer Italiener" einen wirklich landestypischen Namen für sein Restaurant gewählt hatte: "Lokalderby". Respekt. Und die Speisekarte legte ein vorbildliches Zeugnis davon ab, dass die europäische Gemeinschaft auch kulinarisch zusammenwachsen muss: Wenn sich die italienische Küche für Schnitzel mit Pommes, Bratwurst mit Bratkartoffeln und gemischten Salat mit Maultaschen öffnen kann, ist mir um Europa nicht länger bange.

Thomas kam bei der Nachbesprechung (im Hinblick auf meine demnächst erscheinenden Bücher) mal wieder auf meine Frisur zu sprechen, die einfach zu brav sei. Man müsse da unbedingt was machen. Nun bin ich aber ja auch ein sehr braver Typ, doch ich will meinem väterlichen Freund und Mentor hier nicht wiedersprechen. Deswegen tue ich, was ich kann, und lasse die Haare wachsen. Vielleicht wird ja noch was draus.

Die übrigen Themen der Nachbesprechung waren eher internen Charakters und sollen hier keine Erwähnung finden, denn schließlich ist dieses Blog landauf, landab für seine fast schon sprichwörtliche Diskretion bekannt. Nächste Woche findet übrigens keine Probe statt, aber am 22. April geht es wieder rund. Bis dann ...

1 Kommentar:

  1. Lieber Hendrik,

    mit großem Interesse und hinreichender Vorfreude habe ich Euren Weg zur neuen CD verfolgt - konnte mich nur leider nicht am dem ausgeschriebenen Wettbewerb um einen ansprechenden CD-Titel bewerben, da fehlt mir schlicht die Phantasie (ist wahrscheinlich eine Berufskrankheit) - und ich knabbere immer noch daran, dass ich es nicht geschafft habe, das Rätsel um die ominösen Zeichen das el presidente' lösen zu können.

    Erlaube mir eine Randbemerkung: der Präsident, so zurückhaltend, das scheint mir gefährlich - hast du mal an einen kleinen Lauschangriff oder eine Mail-Überwachung nachgedacht - das ist grad in und wird von vielen Firmen erfolgreich praktiziert - kann also nicht verkehrt sein. Im schlimmsten Fall kommt es in die Zeitung und der Vorstand (in diesem Fall der Präsident) muss zurücktreten - oder die Kanzlerin spricht ein Machtwort oder so - kann aber nur gut sein für Dich oder einen etwaigen weiteren Kandidaten. (aber pass auf, dass es wenn, dann nicht nur in der Rhein-Neckar-Zeitung steht ...!)

    Und ja, das Thema, das Dich scheinbar sehr beschäftigt, aber noch keine bildliche Reflexion hier gefunden hat – Deine Frisur. Und wieso um Gottes Namen lässt Du Dich in solchen Fragen von Männer beraten – oder besser gesagt – ungefragt beeinflussen? Da sind Frauen definitiv die besseren Ratgeber!!! (Und ja, Du darfst da jederzeit auf mich zurückgreifen!)

    In diesem Sinne, frohes Ostereier-Verzehren.
    Frl. C.

    PS: Und wann erscheint jetzt die neue CD? Ohne VÖ der CD kommt doch heute keine Band mehr aus – geschweige denn in die Presse!!

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