Ohne Zwischenräume: Probenwochenende 2011

Vieles, was in unserer Band geschieht, folgt Handlungsmustern, die über Jahre hinweg eingeübt, verfeinert und verinnerlicht wurden. Dazu gehört auch der typische Ablauf unserer Probenwochenenden. Vielleicht haben Sie die einschlägigen Berichte ja noch in Erinnerung. Ich denke zum Beispiel an 2007, als wir Weine von Weltklasse tranken, 2008, das Jahr, in dem Harald S. den Begriff des Toleranzempfindens entwickelte oder 2010, als unsere Musik ganz im Zeichen der Salatgurke stand. In all diesen Jahren zeigte sich derselbe, bewährte Ablauf:

Freitag:
  • Anreise, Abendessen, drei Stunden Probe
  • Party bis drei Uhr morgens
Samstag:
  • Kopfweh und von morgens bis abends Probe
  • Abendessen (auswärts)
Sonntag
  • 2 Stunden Abschlussprobe des kompletten Programms für das Jahreskonzert bei SAP
  • Essen, Aufräumen, Abfahrt
An diesem Ablauf gibt es nichts zu verbessern und wir haben uns auch in diesem Jahr exakt daran gehalten. Eigentlich könnte der Bericht hier schließen, doch es gibt einige Aspekte, die Erwähnung finden sollen.

Es geht um die Säurestruktur
Für die lange Nacht von Freitag auf Samstag benötigen wir neben Apfelsaft und Cola natürlich auch edlere Getränke. Dies ist das Ressort unseres Präsidenten Ralf H., der als ausgewiesener Weinkenner gilt. Er hatte im Vorfeld eine Weinprobe auf dem Weingut Mosbacher in Forst arrangiert. Als unser CMO Thomas S., Konsul Toni D. und ich dort eintrafen, hatten der Präsident und unser Pianist und CGO Frank W. bereits einige Weine gekostet, so dass es einiges aufzuholen gab. Als Fahrer und mit Grippetabletten vollgestopfter Rekonvalesezent hielt ich mich ans Mineralwasser, aber Thomas und Toni stiegen mit Verve ins Geschehen ein. Noch viel schwungvoller als die beiden ging unser Präsident ans Werk. Als Toni eine lustige Bemerkung in seine Richtung wagte, stellte Ralf entschieden fest: "Das ist nicht meine erste Weinprobe, Toni, das kannst du mir glauben." Zack. Damit waren die Machtverhältnisse geklärt und es konnte weitergehen. Wir hielten uns eingeschüchtert im Hintergrund, während Ralf mit der Nase im Glas detaillierte Analysen durchführte und die angebotenen Weine anhand ihrer Säurestruktur entweder ins Töpfchen oder ins Kröpfchen einsortierte. Die Säurestruktur eines Weines, so lernten wir, kann "schön" sein oder "ausgeprägt", muss sich aber wohl irgendwie bemerkbar machen, wenn der Wein etwas taugen soll. Wie dem auch sei, eine Stunde später waren die Autos mit einigen Kartons Wein beladen und wir fuhren weiter ins Martin-Butzer-Haus nach Bad Dürkheim.


Zurück zu den Wurzeln
Wir proben die Stücke für unseren wichtigsten Termin im Jahr, das Konzert für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei SAP, schon seit einiger Zeit, aber bei der ersten Probe am Freitag Abend wurde mir erst so richtig deutlich, das wir uns gerade zurück zu unseren Wurzeln bewegen. Nach dem Gurkenkonzert 2010 und der 2011 erschienenen CD, die beide ganz intensiv die faszinierende Jazzszene diesseits des Atlantiks ausloteten, geht es nun wieder zurück ins Mutterland des klassischen Bigband-Jazz. Wir swingen mit Hingabe, Count Basie style, fühlen den Blues, können die Beine nicht stillhalten bei aufregenden Funk-Stücken und schwelgen in großen Gesangsnummern. Beispiele gefällig? Something Different, Shiny Stockings, Blues for Kapp, Act Your Age, Chameleon, Teach Me Tonight, How Sweet It Is - und so weiter! Am 8. Dezember wird bei SAP so richtig die Post abgehen.

Doch ein bisschen Gurke
Eine kleine Reminiszenz an unsere Gurkenphase erlebten wir auf der Freitag-Nacht-Party. Sicher erinnern Sie sich, dass wir auf der Probennachbesprechung am 16. November beschlossen hatten, neben den von Dr. H. ausgesuchten Weltspitzensäurestrukturweinen ein Glas Gin Tonic zu trinken. Thomas S. und Anja R. hatten eingekauft, und Thomas gab den weltmännischen Barkeeper, indem er die eine Sorte Gin mit Tonic und Zitrone (oder Limette?) anrichtete, die andere aber stilecht mit einem Streifchen Salatgurke im Glas. Das Ganze nahmen wir auf schwarzen Ledersofas im Kaminzimmer zu uns, und als der Konsul gegen zwei Uhr morgens auf die Idee kam, den namensgebenden Kamin in Betrieb zu nehmen, war die Idylle perfekt. Die Longdrinks und Säurestrukturen perlten auf der Zunge, die Flammen knisterten und wir redeten allerlei dummes Zeug. Alles genau nach Plan.

Kurzes Frühstück, lange Probe
Das Martin-Butzer-Haus können wir als Unterkunft nur empfehlen - moderne, saubere Zimmer, gutes Essen, freundliches Personal, schöne Aussicht. Wirklich super.

Die Frühstückszeiten sind allerdings sportlich (8.15 bis 9.00 Uhr), so dass wir pünktlich um 10.00 Uhr mit der nächsten Probe beginnen konnten. Einige von uns, die sich entweder vom limonadeartigen Mundgefühl der Gin Tonics hatten täuschen lassen oder die Säurestruktur der Mosbacher-Weine zu intensiv analysiert hatten, nahmen nur sehr kurz oder gar nicht am Frühstück teil, um ihre Schlafphase zu verlängern. Bei der Probe war in den Spielpausen allerorten das zarte Rauschen von Alka Seltzer, Aspirin plus C und Magnesiumtabletten zu hören. Kurzzeitig dachten wir sogar, den Probenraum evakuieren zu müssen, als Starposaunist Helmut G. eine Magnesiumtablette in eine volle Flasche Mineralwasser plumpsen ließ und anschließend vergeblich versuchte, den notwendigen Druckausgleich mit Hilfe des Schraubverschlusses herzustellen. Die Eruption war aber nach wenigen Sekunden vorbei und ließ nicht nur eine teilentleerte Mineralwasserflasche und einen wiehernden Trompetensatz, sondern zum Glück auch vollständig unverletzte Musiker im Posaunensatz zurück. Sonst gönnen wir Trompeter den Trombonen ja jedes Missgeschick, aber von einer H2CO3+Mg-Explosion erledigt zu werden, wünscht man nicht mal seinem ärgsten Feind.
Einer stand zwischen Kopfweh und chemischen Reaktionen wie immer seinen Mann und fegte uns mit einem markerschütternden Solo den Schlafsand aus den Augen: Toni D. Der Mann ist unverwüstlich. Mir selbst ging es im zweiten Teil der Probe allerdings nicht mehr so gut. Leadtrompeter Michael K. hatte den Trompetern mit guten Gründen für das gesamte Wochenende das Spielen im Stehen verordnet, und irgendwann war einfach die Luft raus (obwohl wir uns in den Spielpausen hinsetzen durften). Gegen 16.30 Uhr kündigte der CMO an, dass wir mindestens bis 18.00 Uhr spielen würden (ich habe ihn in diesem Moment nicht geliebt), sagte aber um 17.00 Uhr völlig überraschend "Wir haben ordentlich was geschafft, es soll mir reichen für heute" (in diesem Moment hätte ich ihn am liebsten geküsst, geheiratet und als Alleinerben eingesetzt).

Es riecht nach Wildschwein
Nach einem therapeutischen Glas Wein für die einen und einem verspäteten Mittagsschlaf für die anderen gingen wir zu Fuß in die Klosterschänke Limburg. Cheforganisatorin Edda S. hatte uns gebeten, für diesen Programmpunkt Taschenlampen und tragbare Navigationsgeräte mitzubringen. Nach kurzer Zeit wussten wir, dass das nicht übertrieben war. Wir kamen nämlich vom Weg ab und gerieten auf unbefestigtes, bewaldetes Gelände, auf dem es nach Wildschwein roch. Ich weiß eigentlich gar nicht so genau, wie ein Wildschwein riecht, aber Anja R. schien es genau zu wissen und hatte es sehr eilig, in die Zivilisation zurückzukehren.

Das Essen in der Klosterschänke war gut, obwohl die Speisekarte die These bestätigte, dass die Pfalz kein Paradies für Vegetarier ist. Vermutlich gibt es deswegen dort so viele Wildschweine. Auf dem Rückweg wurden wir um ein Haar von der übermütigen Dürkheimer Dorfjugend über den Haufen gefahren, landeten aber schließlich unversehrt im Kaminzimmer des Martin-Butzer-Hauses.

As Dur: Die Königin der Tonarten?
Der Samstagabend eines Probenwochenendes ist naturgemäß für die ruhigen, intellektuellen Gespräche in kleiner Runde reserviert. Auch hier machten wir in diesem Jahr keine Ausnahme. Das Kaminfeuer ließ sich zwar erst in Gang bringen, als Michael K. die Sache in die Hand nahm, was uns aber nicht davon abhielt, wichtige Themen auszuloten. Ich hatte kurz vor dem Wochenende einen autobiographischen Roman von Hanns-Josef Ortheil zu Ende gelesen. Ortheil war die ersten sieben Jahre seines Lebens stumm und wurde früh als pianistisches Wunderkind entdeckt, bevor eine Sehnenscheidenentzündung während der Ausbildung am Konservatorium in Rom seine Karriere beendete. Aus diesem fast 600 Seiten starken Lebensbericht war mir einiges in Erinnerung geblieben, das es mir ermöglichte, mit den musikalisch Gebildeten um mich herum tiefsinnige Gespräche zu führen.
Vor diesem Hintergrund wagte ich in der kaminfeuerbeflackerten Runde folgende These: "As Dur ist die Königin der Tonarten!" Wir sprachen sehr lange darüber, und unser CMO war der Ansicht, dass das Unsinn sei. Zwar weckten die unterschiedlichen Tonarten, so Thomas, sehr wohl unterschiedliche Gefühle und Stimmungen, aber eine Königin der Tonarten gebe es nicht. Und was soll ich sagen? Er hat vermutlich Recht. Mea culpa. Der Ausdruck "Königin der Tonarten" kommt im Roman auch gar nicht vor. Fürs Protokoll zitiere ich die Belegstelle:
Ein noch größeres Vergnügen aber macht mir die Lektüre der Kladden mit meinen Reise-Notizen. [...] Trotz ihrer Verspanntheit und ihres Überschwangs erregen mich diese Notizen. Irgendetwas steckt in ihnen, irgendetwas wirkt weiter auf mich. Hätte ich bloß auf die überdrehten Partien verzichtet, und hätte ich meinen Gefühlen bloß nicht derart oft unkontrolliert Raum gelassen: As-Dur, das ist die zärtlichste, aber auch traurigste Dur-Tonart überhaupt! ... Beethoven und Schubert haben in As-Dur gedichtet! 
(Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens, Genehmigte Taschenbuchausgabe, München 2011, S. 567 ff.)
Okay, wenn man das glauben kann und Beethoven und Schubert in As Dur gedichtet haben, ist es sicher keine völlige Schrott-Tonart, aber das mit der Königin nehme ich hiermit zurück, lieber Thomas! Trotzdem halte ich an dem Vorschlag fest, dass du die Musik zu unserem neuen Song (Arbeitstitel: '"Liebe auf dem Tigerfell" - bitte fragen Sie nicht, wie wir auf diesen Titel gekommen sind, es war spät) in As Dur komponierst oder vielleicht sogar dichtest. Wer weiß, was dann passiert.

Wir beendeten die As-Dur-Diskussion, wie so häufig, mit einer blöden Frage von mir: Welche Vorzeichen hat diese Tonart denn überhaupt? Sie wissen es natürlich, liebe Leserinnen und Leser. Es sind vier b.

Mit Ausnahme von mir wussten die Anwesenden natürlich auch, welche Vorzeichen As Dur hat, aber kaum hatten wir das geklärt, entstand wie aus dem Nichts etwas Neues. Eine originelle, große Idee. Unser Gitarrist Jens W. fragte: "Warum muss das eigentlich so kompliziert sein?"
Thomas griff den Gedanken auf, entwickelte ihn weiter und stellte fest: "Wenn man As Dur als erste Tonart lernen würde, wäre C Dur plötzlich total schwer."
"Genau das ist es", fiel Pianist Frank W. ein, "das Problem sind die Vorzeichen!" Daraufhin entwickelte er aus dem Stegreif ein neues Notationssystem, das statt fünf einfach zehn Notenlinien verwendet. "So lassen sich alle Töne ohne Vorzeichen darstellen", so Frank. Er fuhr fort (und hier beginnt der visionäreTeil, den wir noch nicht ganz verstanden haben): "Allerdings am besten ohne Zwischenräume." Mann. Wow. Das ist minimalistisch. Einfach. Genial. Wir wissen nicht, wie er die Noten sichtbar machen will, wenn die zehn Notenlinien zu einem tiefschwarzen Block verschmelzen, aber das sind lächerliche technische Details. Der Mann ist schließlich nicht nur Pianist, sondern auch Grafiker und produziert mit Leichtigkeit Poster mit achthunderneunundvierzigmillionen Pixel Auflösung. Da wird sich auch für die grafische Umsetzung des zwischenraumlosen Notenliniensystems eine Lösung finden lassen. Wir sind sicher, dass sich das Ganze mittel- bis langfristig durchsetzen und alle anderen Notationssysteme verdrängen wird. Und wir durften nicht nur dabei sein, als die Idee geboren wurde, nein, wir waren Geburtshelfer, Ko-Innovatoren gar. Es ist erhebend, ist es nicht?

Wir sind bereit
Die Abschlussprobe am nächsten Morgen erschien im Lichte dieser geistigen Großschöpfungen wie eine triviale Übung. Dachte ich zumindest im ersten Set, als ich tatsächlich mit einer Leichtigkeit spielte, die ich seit Monaten nicht gefühlt habe. Im zweiten Set hatte ich dann eine eigenartige Lippenschwellung, die ich ebenfalls seit Monaten nicht gefühlt habe. Vermutlich weil ich seit Monaten nicht mehr anständig Trompete geübt habe. Es ging dann aber doch irgendwie. Insgesamt war es eine sehr gute Probe. Wir haben tatsächlich alle 15 Nummern ohne Abbruch oder Wiederholung durchgespielt. Jetzt gibt es noch zwei Proben und dann ist es so weit. Am 8. Dezember rocken wir das SAP-Schulungszentrum mit feinstem klassischem Bigband-Jazz. Vorerst noch mit fünf Notenlinien, aber aus diesen fünf Linien werden wir einen Sound herausholen, der euch verzaubern wird, liebe Kolleginnnen und Kollegen. Versprochen.

5 Kommentare:

  1. Hallo Hendrik,
    Sehr praezise Beschreibung, nur eine Anmerkung:
    Frank ist seiner Zeit sehr weit voraus. Nur so ist zu erklaeren. Warum seine Theorie immer noch nicht verstanden wurde. Er wollte zwoelf Notenlinien, d.h. Ene Linie pro Ton im Zwoelftonsystem. Ohne Zwischenraeume versteht sich!

    T-Lead

    AntwortenLöschen
  2. Danke, Hendrik, für diese köstliche Lektüre in meiner Mittagspause. Ich freu mich schon aufs Konzert.
    Cordula

    AntwortenLöschen
  3. Hallo Hendrik, hach, wieder herrlich gelacht! Mehr davon bitte. Wenn über das Probenwochenende schon so klasse geschrieben wird, wie muss dann erst die Musik sein?!
    Viele Grüße
    Doro

    AntwortenLöschen
  4. wunderbar wie immer :-) Wie heißt die Dur Terz von Ab Dur?

    AntwortenLöschen